Possession und vier Texttypen von Heidegger
Possession und vier Texttypen von Heidegger
Gestatten Sie mir, zuerst etwas zu erzählen, was ich interessant finde, bevor ich mit dem eigentlichen Vortrag anfange. Nachdem ich die Niederschrift des Vortragstextes beendet hatte, habe ich einen faszierenden Film gesehen, Possession (2002), die Verfilmung des berühmten Romanes Possession: A Romance (1990) (Deutsch: Besessen) der englischen Schriftstellerin A. S. Byatt.
Die Geschichte hat zwei Handlungsstränge: Ein Leser von heute (1986), ein wissenschaftlicher Assistent namens Roland Michell forscht über Randolph Henry Ash, einen Dichter des Viktorianischen Zeitalters, der in der Geschichte als „Meister des Bauchredens“ dargestellt wird. Während seiner Forschungen entdeckt Michell 2 unvollendete Briefe an eine unbekannte Frau, die in Vicos Buch Die neue Wissenschaft (Scienza nuova prima) versteckt sind. Dieses Exemplar war von Ash als letztem ausgeliehen und später in die Bibliothek zurückgebracht worden. Im Roman werden die durchgestrichenen Zeilen in den Briefen rekonstruiert, wobei sich durch die Recherche herausstellt, dass diese Briefe an eine Zeitgenossin adressiert waren, die damals berühmte Dichterin LaMotte. So wurde ein Jahrhundertgeheimnis aufgedeckt: zwischen Ash, der ein normales Familienleben führte, und LaMotte, die ihrerseits zeitlebens allein lebte, hatte es im Jahr 1868 eine Affäre gegeben. Von der gemeinsamen Tochter, die danach geboren wurde, erfuhr Asch nie. Aus dem Roman erfahren wir, dass Maude Bailey, eine Nachfahrin von Ash und LaMotte, die Andeutungen in den Gedichten von LaMotte entziffert und daraufhin weitere Briefe in einem Kinderwagen entdeckt, die LaMotte 100 Jahre zuvor in ihrem Haus versteckt hat. Nicht nur das, sogar die Szenen der heimlichen Liebesabenteuer beider Dichter, welche in den Metaphern dieser Gedichte angedeutet wurden, können rekonstruiert werden. „Manches ereignet sich, ohne erkennbare Spuren zu hinterlassen, ohne dass darüber gesprochen oder geschrieben wird, obwohl es falsch wäre zu sagen, dass alles Nachfolgende unbeeinflusst davon seinen Lauf nimmt, als hätte es jenes nie gegeben.“ Diese Worte entstammen dem Anfang des Nachwort desselben Romans. Ich denke, dass diese Briefe, die den anderen Lesern verschlossen blieben, eine Art von Geheimdokumenten darstellen, welche die wahre Geschichte zu verbergen versuchen, während jene Gedichte – wie etwa in der Bauchrednerei – zwar das verstecken, was sie eigentlich bedeuten, aber als Texte betrachtet werden können, die dennoch etwas vergegenwärtigen wollen. Natürlich darf man hier nicht vergessen, dass es sich lediglich um eine Fiktion handelt.
In den letzten Jahren wurde die Philosophie von Heidegger der Schwerpunkt meiner wissenschaftlichen Betrachtungen. Was ich heute anprechen möchte, ist weder etwas Vergnügsames, was sonst heute in der chinesischen wissenschaftlichen Welt oder aus der Perspektive der Philosophietradition des Westens den akademischen großen Anderen präsentiert wird, noch eine Anekdote, die in der Öffentlichkeit erzählt und interpretiert wird. Was Heidegger ausmacht, ist, dass er unter den Professoren, deren Aufgabe als das akademische Man nichts anderes ist als den großen Anderen etwas vorzuführen, diese Aufgabe nicht nur am besten erfüllt, sondern auch im geheimsvollen Anderswo durch sein wahres Denken das Schattenspiel in der akademischen Welt entlart und verspottet hat. In dieser Hinsicht aber unterscheidet er sich von den ebenso scharfsinnigen Figuren wie Nietzsche und van Gogh. Die beiden verabscheuen die widerlichen Vorführungen der „Gewürmmenschen“ im System , welche nichts anderes tun als nur um des Lebens willen zu leben. Voller Wut entschlossen sie sich zum Exil, und verfielen in der Abgeschiedenheit dem Wahnsinn. Scharfsinnig wie er ist, weiß Heidegger zwar Nietzsches Tiefsinn und van Goghs Wahrhaftigkeit zu schätzen, ohne aber sich in der Zurückgezogenheit selbst in den „Wahnsinn“ zu treiben. Seine Überlebensstrategie ist offensichtlich eine reale: Vorführung gegenüber der Theologie und Politik; sein Weg des Denkens ist der kämpfende Ausdruck auf dem Feld der Metaphysik. Doch im Heideggerschen Weg des Denkens lassen sich nicht nur sichtbare Spuren im Lichte finden, sondern auch schwer erkennbare Schatten im Dunkeln.
Ein chinesischer Philosoph namens Feng Youlan hat einmal gesagt, es gebe zwei Wege, sich mit der Philosophie auseinderzusetzen: „befolgend“ und „darauffolgend“. Befolgend heißt, die eigene philosophische Auseinandersetzung basiert auf den Lehren eines Meisters oder Kanons. Die Grundlage des eigenen Denkens ist demnach der tradierte Wissensbestand und man denkt innerhalb des Systems. Darauffolgend bedeutet aber, die Philosophie fortzusetzen, indem man auf die bereits vorhandenen Fragestellungen aufbauend neue Fragen stellt. Es geht hier also um die Innovation des Systems. Oft sind beide Wege miteinander verbunden, wie dies ja letztlich auch die unserem Vorgehen in der Wissenschaft entspricht, immer schließen wir an andere an. Das philosophische Denken von Heidegger hingegen ist eigentümlich, es ist kein Gedankengebäude von einfacher Diachronie, das durch eine lineare Evolution homogener Art oder eine Transformation heterogener Art gekennzeichnet ist, sondern ein vielschichtiger, dynamischer fast labyrinthischer Denkkomplex. Nachdem Karl Marx die Metaphysik auf den Kopf gestellt und Nietzsche das gesamte westliche Zivilisationskonzept ein für alle Mal für beendet erklärt hat, sieht Heidegger seine Hauptaufgabe darin, die Metaphysik oder gar die gesamte westliche Kultur erneut auf die Grundlage des Seins zu stellen, was schon längst in Vergessenheit geraten ist. Durch seine mühenvolle Arbeit hätte man beinahe einen Schatten dessen erkennen können, was man „Ontologie“ nennen könnte, aber dazu kam es nicht. Heidegger hat uns das mit Absicht vorenthalten, es bleibt uns ein Geheimnis. Er hat das Sein, das er einst für die Grundlage hielt, in dieser Position für ungültig erklärt. Das durchgekreuzte Sein verwandelt sich wie durch Magie ins Seyn, das „in einem Anfang“ steht. Daher könnte man sagen, Heideggers Denkweg, seine Textproduktion, seine Wahrhaftigkeit, ja, trotz seiner bauchrednerischen Art, sogar sein ganzes Leben, all das ist ein situierendes Rätsel. Einfach zu behaupten, das sei seine Absicht, wäre nicht fair. Es handelt sich um das Zusammenspiel zwischen der wirklichen Existenz, dem reflexiven Seyn und dem geheimnisvollen Ereignis. Das sieht man deutlich im „Wie“ der komplexen der Heideggerschen Textsituierung.
Marx hat einmal gesagt, im gesellschaftlichen Leben sind wir selbst Schauspieler und Publikum zugleich. In der Geschichte sehen wir uns selbst auf der Bühne spielen, allerdings bilden wir uns in den meisten Fällen ein, es wären die anderen, die da spielen. Heidegger selbst ist ein wunderbarer Schauspieler, gewiss, er ist zugleich auch sein erster Zuschauer, der seine eigene Schauspielkunst beobachtet. Heidegger ist klug genug, selbstverständlich das Nicht‑Ich (Fichte ‑ Hegel) zu kennen. Man lebt, nicht nur weil man als Individuum persönliche Bedürfnisse hat, sondern man lebt auch für etwas, Heidegger würde sagen, man lebt auf etwas hin. Man lebt ja auch mit den anderen zusammen, die von einem abhängig sind, die mit einem zusammenhängen, die einem zuschauen. Ein wesentlicher Teil dieser Zuschauer hat ein Gewaltpotential, man kann sagen, die Internetuser in der heutigen Gesellschaft seien die verstärkte Update‑Version dieser gewaltätigen Zuschauer. Über dieses ernstzunehmende Problem hat Lacan schon nachgedacht. Nach ihm ist das Leben eines Menschen nichts anderes als eine entfremdete Existenz, die Identifikation mit den gewalttätigen Anderen. Aus dieser Perspektive betrachtet, kann man sagen, dass Heidegger im Leben, in das er geworfen ist, wenngleich widerwillig, drei Arten von Zuschauern begegnet, die man die Großen Anderen nennen könnte: 1. die Ideologie der katholischen Theologie, in die er hineingeboren wurde 2. das System der westlich‑scholastischen Metaphysik, von dem er Zeit des Lebens abhängig blieb, 3. der Nationalsozialismus, den er verkannte. In seinen jeweiligen Lebensstadien greift Heidegger nicht unbedingt freiwillig auf diese drei Großen Anderen zurück, für die er in Masken spielte und deren Aufmerksamkeit er erhielt. Abgesehen vom Nationalsozialismus, mit dem er sich eine Zeit lang identifizierte, sind diese drei Großen Anderen im Grunde nur die Pseudo‑Anderen, mit denen sich Heidegger nicht wahrlich eins fühlt. Für sie schauspielert er nur aus verschiedenen Gründen. Für seine Zuschauer, für die 3 Großen Anderen, tritt er in seinem Leben auf verschiedenen Bühnen auf.
Diese akademische Show Heideggers ist durchaus abwechslungsreich. Er ist keiner, der nur in seiner Stube sitzt, sein Gedankennetz spinnt und die Feder führt. Er hält zahlreiche Vortäge und Vorlesungen, leitet Seminare und Diskussionen, hält Reden auf Symposien, führt Gespräche, sogar in einigen Interviews kann man ihn erleben. Ich werde hier versuchen, anhand einer Theorie der Situierung den Gedankengang eines Denkers zu beschreiben: Die allerersten Gedanken werden mühsam konstruiert, doch oft auch schießt uns ein Gedanke wie ein Blitz durch den Kopf (sinngemäß nach Wittgenstein), dieses Stadium des Denkens könnte man die Urkonstruktion nennen. Dann kommt es zum Wort, aus dem Texte entstehen. Die Textproduktion ist also die Konstruktion auf der 2. Ebene, sie ist nicht nur ein Prozess der Zuordnung und Verknüpfung, sondern auch der Umgestaltung und Umformung. Die daraus entstandenen Texte, unterschiedlichen Zwecken dienend, sind die materielle Realisierung der Heterogenität des Denkens. Darauf werde ich in der Analyse der Texttypen Heideggers noch eingehen. Die Orientierung und das Ziel der Vorlesungen und öffentlichen Vorträge zielen jedoch auf etwas anderes. Die Konstruktion des Denkens in den materiellen Vortragstexten ist im Grunde eine Rekonstruktion des Denkens im Dienste der gegenwärtigen Rede. Es handelt sich hier um eine geschwächte oder gestärkte Übertragung alles möglichen gegenwärtigen Denkens, je nach Zuhörern und Situationen. Dialoge bzw. Gespräche bieten einem häufig die Möglichkeit, mithilfe der Denkanstöße eines anderen die eigenen Gedanken spezifisch zu rekonstruieren. Ein gutes Gespräch ist wie eine Arena des Denkwettkampfes, in der sich ein neues Konstrukt entwickelt. Bedauerlicherweise können wir Heidegger in solchen Live‑Situationen nicht mehr erleben. Wie er seine Gedanken in solchen Situation entwickelt, kann man meines Erachtens im nachhinein nicht mehr wirklich rekonstruieren. Herr Professor Xun Wei, ein ehemaliger Schüler von Heidegger, zählt zu den wenigen Chinesen, die den Meister noch persönlich miterleben konnten. Zum Glück hat uns Heidegger zahlreiche Texte sowie einige Audio‑ u. Videoaufzeichnungen hinterlassen, deren Enstehungszusammenhang den oben genannten Situationen ähnlich ist. Diese sind unser einziger Zugang, mittels dessen wir uns Heidegger nähern können. Dazu gehören natürlich ja auch jene von ihm hinterlassenen Gegenstände und der Schwarzwald, den er schon lange verlassen hat.
Nun komme ich zur Typologie der Heideggerschen Texte, die ich anhand meiner Theorie der Situierung zu untersuchen versuche. Dabei muss ich sagen, dass Heidegger eine solche Einteilung der Texte in verschiedene Typen, die ich hier versuche, nicht unbedingt selbst beabsichtigt haben muss. Die Kriterien der Einteilung der Heideggerschen Texte sind anders als die, mit denen ich in meinen zwei anderen Büchern – Zurück zu Marx und Zurück zu Lenin – die dort zu untersuchenden Texte zu klassifizieren versuchte, wobei ich auch dort 4 Texttypen festgestellt habe. Im Buch Zurück zu Marx habe ich die Methode der Textanalyse der Moderne verwendet, wobei ich – wenn ich heute über mein damaliges Verfahren reflektiere – die Texte aus der Perspektive eines Lesers, der von außen her diese Texte nur als Objekt betrachtet, zu analysieren versuchte, also eine Art der Objektperspektive, d.h. die Intentionen der Textverfasser.. Rein Subjektives, wurde nicht berücksichtigt. Im Buch Zurück zu Lenin bin ich zwar zum posttextanalytischen Konstruktionsansatz übergangen, aber diese Analyse bechränkte sich nur auf den Aspekt der subjektiven Situierung der Interpreten.. Nun aber haben wir aber Heidegger, einen unkonventionellen Autor, vor uns. Ich muss deshalb über meine bisherigen Betrachtungsweisen hinausgehend dementsprechend noch eine neue hinzufügen: Verfasser(Subjekt)perspektive im Sinne der Theorie der Situierung. Heidegger hat uns – mit oder ohne Absicht – verschiedene Texttypen hinterlassen, welche man chronologisch und stratifizierend betrachten sollte. Dabei sollte man im Heideggerschen Sinne hinterfragen, „worauf“ ein Text geschrieben ist, d.h. für wen ein Text geschrieben ist. In der traditionellen Textanalyse wird ein Text, der als „das Gewesene“ gilt, nur als vergegenständlichtes „Was“ interpretiert. Das ist ein normales Verfahren der Textanalyse der Moderne, einschließlich der Hermeneutik. Der spätere Roland Barthes und Kristeva betonen die Kontextualität und Produktivität von Texten und gehen sogar zur subjetiven Leserperspektive über. Was mir jetzt aber wichtig scheint, ist eine tiefere Ebene der Situierung in der Textanalyse, d.h. die Dimension des „Weltens“ der Verfasser(Subjekt)perspektive in der Textproduktion. Das bedeutet für die Textanalyse den Übergang des Untersuchungsschwerpunkts eines gegenständlichen „Was“ zum funktional‑existenten „Wie“. Ich denke, dass man die Heideggerschen Texte nicht allein auf ein existentes Objekt der Hermeneutik reduzieren, sondern dabei das „Worauf hin“ herausfinden soll, d.h. für wen er jeweilige Texte geschrieben hat, nur dann können wir situierend den Zugang zum „Wie“ in der Textproduktion finden, also auch den Schlüssel für seine Texte.
Ich bin mir im Klaren, dass ein solches situierendes Hinterfragen einem Leser unverständlich erscheint, der mit den Spielregeln der Hermeneutik gut vertraut ist. Um diese Problematik zu verdeutlichen, gestatten Sie mir, einen Umweg zu machen. Aus der Verfasser(Subjekt)perspektive betrachten wir die Schriften, die Marx und Engels zu Lebzeiten veröffentlichten, und die ich im Buch Zurück zu Marx untersuchte. Diese Schriften zählen zu den Texten Typ I. Somit können wir behaupten, dass die beiden darin ihre wahren Einstellungen zum Ausdruck gebracht haben, abgesehen von manchen unterschiedlich motivierten Ausnahmen, z. B. aufgrund von ideologischem Druck und Zwang von außen (preußische Zensur) oder wegen angestrebter Akzeptanz in der akademischen Welt (die spekulative Tradition der deutschen Philosophie und deren Varianten) und einigen anderen Hindernissen (So ist der „Mitkämpfer“ Moses Hess zugleich Zielscheibe seiner Kritik). In manchen Stadien ihres Denkwegs gibt es manche theoretischen Anderen, deren sie sich auch nicht bewusst waren, z.B. den verborgenen anthropologischen Diskurs im Sinne von Feuerbach in den Ökonomisch‑philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844 (diese gehören zu den Texten Typ II). Die Entstehung der Spiegelbilder der Anderen war nicht seine Absicht. In seinen Notizen, Briefen (Texte Typ III) und kritischen Randbemerkungen zu den Lektüren (Texte Typ IV) findet die Widerspiegelung seiner allerersten Gedankenspiele in der Entstehungsphase. Wie oben schon erwähnt, hatte ich während der Untersuchung Zurück zu Lenin einen Perspektivenwechsel, bei dem ich bewusst Situierungsansatz verwendete. Deshalb habe ich entdeckt, dass Lenin bereits in seinen „Berner Notizen“ tief in die Hegelsche philosophische Logik eindrang, sich mit der praktischen Philosophie von Marx auseinandersetzte und eine gewisse Tiefe erreichte. Aber nach der Oktoberrevolution, als er den russischen Proletariern und Revolutionären unmittelbar begegnete, verbarg er mit Absicht seine wichtigen theoretischen Entdeckungen und Erkenntnisse. Er verwendete stattdessen geläufige, allgemein verständliche Begriffe und Formulierungen. In dieser Hinsicht kann man sagen, dass sich Lenin gewissermaßen bewusst war, „für wen“ seine Texte gedacht waren. Und er hat Recht behalten. Das war Lenins Pragmatik, er wusste genau, dass bei der Verbreitung der wissenschaftlichen Theorien die Aufnahmefähigkeit des Publikums berücksichtigt werden musste. Andererseits ließ diese Taktik eine Hintertür offen für den späteren dogmatischen Missbrauch durch Stalin. Aus ideologischen Gründen wurde die Tiefsinnigkeit und Komplexität der Leninschen philosophischen Reflexionen auf ein theoretisch vorgeschichtliches Niveau gesenkt (Materialismus und Empiriokritizismus). In gewissem Sinne kann man sagen, dass aus den Berner Notizen ursprünglich sozusagen unabsichtlich „Geheimdokumente“ wurden. Aber später hat Stalin aus dem Wunsch nach ideologischer Kontrolle heraus tatsächlich versucht, diese Notizen zu verbergen. Die Rekonstruktion dieser Überlieferungsgeschichte samt historischen Zufällen kann hilfreich sein, uns einen Zugang zu den Heideggerschen Textspielen zu verschaffen.
Im Vergleich zu den normalen Denkern und Wissenschaftlern verhält sich Heidegger, so außergewöhnlich wie er ist, ganz anders im Umgang mit der Produktion und Verarbeitung von Texten. Die Umgebung, in der Heidegger lebt, ist komplex und in vielfältiger Weise weltlich. Er war nie ein normaler Mensch, der ohne innere Welt lebte und sich an die reale Welt anpasste. Schon sehr früh war ihm der Unterschied zwischen der Welt der realen Existenz und der Welt des Inneren bewusst. Noch wichtiger war ihm der Unterschied zwischen ihm selbst und den Vertretern des akademischen „Man“, die abhängig von Spiegelbildern sind. Er aber hat auf eine geniale Weise den großen Anderen und den kleinen Anderen , welche die Psychologie und Lebensformen der normalen Menschen gestalten, von sich ferngehalten.. Deshalb hat er sich schon sehr früh gewöhnt, im realen Leben verschiedene Rollen zu spielen: den großen Pseudo‑Anderen (Kirche und Herrscher der Lehrstühle) führt er etwas vor; den Vertrauten (Verwandten und den von ihm geliebten Menschen) offenbart er sich; auf dem akademischen Felde präsentiert er einerseits seinem Publikum (Studenten sowie Lesern) etwas mit Logik, andrerseits verbirgt er auf eine bauchrednerische Art das, was er wirklich denkt, oder aber lässt dieses auch gelegentlich in Erscheinung treten. All diese Facetten bilden das Kennzeichen seiner komplexen Persönlichkeit. Er schreibt immer mit einer bestimmten Intention und entwickelt komplexe Strukturen für seine Texte. In dieser Hinsicht kann man sagen, die Art und Weise, wie er schreibt, sei mit reflexiver Sorgfalt verbunden und wissentlich vom ihm gewählt. Hierin zeigt Heidegger seine herausragende „Regie‑ und Schauspielkunst“.
In seinen früheren Jahren, als er ins reale Leben eintrat, musste der junge, hilflose Heidegger Masken tragen und sich anpassen. Er wusste sehr genau, wer unter (den großen Anderen) seinem Maskenspiel zuschaute, ihn eventuell finanziell unterstützen und ihm offizielle Anerkennung im akademischen Kreis zollen konnte. Zeit seines Lebens versuchte Heidegger stets mit der Tradition zu brechen. Obwohl er dem Zeitgeist weit voraus war, wollte er sich aber nicht ganz aus dem akademischen Feld zurückziehen. So „schlau“ wie er ist, lässt er einnerseits zeitgemäß seine Kreativität und sein Kritikvermögen erkennen, andererseits hält er sich im Innern an dem von seiner Ursprünglichkeit gekennzeichneten Ereignis fest, welches er schon als Kind in der Heimat intuitiv empfand. In der späteren Phase seines Denkes hat er eine Poetik gefunden, in der er seine Gedanken über das Ereignis entwickeln konnte, und für sich unzählige wichtige Schriften verfasst, die Geheimdokumente genannt werden können. Diese Texte sind der eigentliche Antrieb seiner nach außen getragenen Vorführungen und Präsentationen in der wirklichen Welt und bilden die Grundlage seines schöpferischen Denkens. Außer einigen Untersuchungen zur Kunst und Sprache (zuletzt auch veröffentlicht im akademischen Feld) in seinen späten Jahren hat Heidegger den größten Teil seiner geheimnisvollen Gedanken bis zu seinem Lebensende ganz und gar verborgen. Denn er war der Auffassung, dass diese geheimnisvollen Gedanken, auch wenn sie damals veröffentlicht worden wären, von niemandem verstanden worden wären. Das ist der wahre Grund, warum Heideggersche Texte so vielfältig erscheinen, weil sie jeweils diesen entsprechenden Zwecken dienen.
Es gibt Texte, deren Aufgabe es ist, das wahre Denken zu bewahren, gleichzeitig werden einige andere Texte, die man „akademisch‑logische Konstrukte“ nennen kann, zur Darstellung gemacht, d.h. sie dienen verschiedenen Anlässen entsprechend zur Schau für andere. So sind Texte unterschiedlichster Art entstanden, wir können sie in folgende Typen einteilen: zwangsmäßige vorführende Texte, agierend präsentierende Texte, auftretende gegenwärtige Texte, verborgene geheimnisvolle Texte.
Zur Schau dienende, vorführende Texte sind für die großen Pseudoanderen gedacht. Ein Teil seiner früheren Schriften ist geschrieben für entweder die theologischen großen Anderen (Kirche), akademischen großen Anderen (universitäre Gremien) oder politischen großen Anderen (Nazionalsozialisten). Dazu gehören aber auch einige andere Texte, deren Zielgruppe zwar das normale Publikum war, welche aber doch unter der Aufsicht und Kontrolle jener großen Anderen geschrieben wurden.
Präsentierende Texte finden sich in den Vorlesungen, Vorträgen, Dialogen und zahlreichen anderen Veröffentlichungen. Diese Texte sind aus den öffentlichen sowie verborgenen Auseinandersetzungen im Feld der akademischen Polizei entstanden. Solche Texte sind der Hauptgegenstand der traditionellen Heidegger‑Forschung. Den Begriff „Polizei“ habe ich vom französischen Theoretiker Jacques Rancière übernommen und hier in einem abgeänderten Sinne verwendet. Unter seinen wissenschaftlichen Schriften sind diese Texte die schwierigsten und am leichtesten zu verkennenden. Heidegger ist kein weltfremder Denker, er „kennt und akzeptiert das Faustpfand zur Legitimation im Feld der Philosophie“£¬deshalb weiß er genau, wann er dieser akademischen Welt, mit der er eigentlich ungern verkehrt, den ausgefüllten Fragebogen abgeben und ein paar hinweisende Antworten geben soll.
Die Geheimdokumente sind die jenigen Texte, die Heidegger hinter dem Rücken seiner Mitwelt für sich selbst und die Nachwelt geschrieben hat. Hier findet man seine wahre Gedanken zum gesamten Seyn in unterschiedlichen Lebensstadien. Obwohl er ab und zu auch einiges davon den anderen (z.B. seiner Frau im Jahr 1918) offenbart, aber es ist ihm klar, dass dies Texte ohne Adressaten und Leser waren. Da in ihnen die oben genannten großen Anderen abwesend waren, fühlte er sich befreit vom Rahmen der Tradition (die Metaphysik auf „dem ersten Weg“), die er bereits durchschaut und aufgelöst hat. Hier ist keine zur Schau dienende Schauspielerei und kein Bedürfnis nach einem Schauspiel. Jegliche Maske ist überflüssig, alle akademischen Konventionen werden ignoriert. So findet ein „sprunghaftes Umleiten“ (détournement) im Denken statt, wodurch ein nie gegebener „anderer Weg“ entsteht, auf dem „das eigentliche Denken“ möglich ist. Das ist die tiefste und wahrste Schicht der Heideggerschen Situierung seines Denkens.
Die auftretenden gegenwärtigen Texte tauchen in bestimmten Situationen und Momenten auf, in denen Heidegger die Situierung seines eingentlichen Denkens in Erscheinung treten lässt. Nach 1936 hat er im Geheimen eine Reihe von Texten verfasst, in denen die Entstehung und Entwicklung dieses eigentlichen Denkens zu entdecken sind. Zu Lebzeiten wurden diese geheimnisvollen Texte zwar nie veröffentlicht, aber Heidegger hat manchmal mit Absicht gerade dort, wo es nicht um philosophische Diskurse geht, einiges von seinem eigentlichen Denken in Erscheinung treten lassen.
Bei Heidegger ist die Grenze zwischen den 4 Texttypen nicht immer festgelegt. In bestimmten Fällen sind diese Texte in der Wechselbeziehung zu und miteinander entstanden, manche verwandeln sich ineinander. Es kann sogar vorkommen, dass ein und derselbe Text in seiner Übergangsform zu verschiedenen Texttypen gehören kann. Genau da müssen wir sorgfältig differenzieren, wenn wir in die Welt der Heideggerschen Situierung des Denkens eintreten.